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Gesellschaft & Geschichten

"Sie nennen uns moderner Robin Hood“

Zu Gast bei Hobbit House

Paylaşmak mutluluktur – Teilen macht glücklich. Auf Sinem und Murat Asılcan aus Istanbul trifft dies auf jeden Fall zu. Die beiden haben im ärmlichen Istanbuler Stadtteil Balat ein soziales Projekt auf die Beine gestellt und recyceln Gegenstände, die sie anschließend an Bedürftige verteilen. Wir haben das Hobbit House in Balat besucht.

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Sinem, Murat, euer Haus ist voller Kleidung, Bücher, alter Bilder, Schalen … Wer bringt euch all diese Dinge und was macht ihr damit?

Murat: Alles, was ihr hier seht, ist gebraucht. Entweder wir sammeln es oder die Leute bringen uns Dinge, die kaputt sind oder für die sie keine Verwendung mehr haben, selbst vorbei. Wir richten sie wieder her und geben sie an arme Kinder und ihre Familien weiter.

Sinem: In den vergangenen Monaten schafften wir es dadurch, knapp fünftausend Kleidungsstücke, Spielsachen und Bücher pro Woche an die Kinder in der Nachbarschaft zu verteilen.

Ihr habt ein Haus in Istanbuls wunderschönem alten Stadtteil Balat bezogen, ein bisschen abseits vom Großstadttrubel. Warum seid ihr mit eurem Projekt gerade hierher gekommen?

Murat: Balat ist ein sehr armer Stadtteil. Hier leben viele syrische Geflüchtete, Armenier – und vor allem auch viele arme Kinder. Sie wollen wir mit unserem Projekt gezielt unterstützen.

Die meisten Stiftungen und Vereine, die ähnlich wie wir arbeiten, sammeln Spenden meist nur an festlichen Tagen wie zum Beispiel an Ramazan Bayramı (Anm. d. Red.: Ende der Fastenzeit) oder Kurban Bayramı (Opferfest). Sie fordern dann um die hundertfünfzig Türkische Lira pro Kind, um es von Kopf bis Fuß neu einzukleiden. Damit helfen sie vielleicht vierzig bis fünfzig Kindern. Mit unserem Projekt wollen wir auch an das Mitgefühl unserer Mitmenschen appellieren. Es ist quasi ein nachhaltiges Recyceln.

Hobbit House – Wie seid ihr auf den Namen eurer Projekts gekommen?

Murat: Unser Haus ist so klein, dass die Leute am Eingang den Kopf einziehen müssen. Die Hobbits sind gerade mal einen Meter große menschenähnliche Wesen, die an ruhigen Orten friedlich miteinander leben. Und vor allem lieben sie gutes Frühstück, so wie wir (lacht).

Ihr nehmt von denen, die zu viel haben, und gebt es den Armen. Seid ihr so etwas wie der moderne Robin Hood?

Sinem: (lacht) Ja, die Leute nennen uns moderner Robin Hood. Eigentlich sind das aber nicht wir, sondern viel mehr die Leute, die uns ihre Sachen bringen.

Was braucht ihr noch bzw. mit welchen Sachen sollten wir vor allem zu euch kommen?

Murat: Wir brauchen vor allem Babykleidung, Spielsachen oder Kinderbücher. Die Türkei hat so viele arme Kinder…

Was bietet ihr außerdem in eurem Haus an?

Murat: Neben unserer offenen Garderobe haben wir hier auch eine offene Bibliothek. Die Kinder können hierher kommen und lesen, aber auch essen oder spielen. Jeder ist eingeladen, zu uns zu kommen und mit den Kindern etwas zu unternehmen. So lernen sie viel Neues und integrieren sich in die Gesellschaft. Auch Lehrer kommen zu uns und helfen den Kindern bei den Hausaufgaben oder basteln mit ihnen.

Sinem: Zusätzlich bieten wir in unserem Café auch Bio-Frühstück an. Dafür verwenden wir nur selbstgemachte, frische Zutaten. Die Hälfte der Einnahmen aus unserem Café fließt in unsere sozialen Projekte. So konnten wir zum Beispiel schon einer Familie das Sünnet düğünü, das traditionelle Beschneidungsfest ihres Sohnes, finanzieren. Eine andere Familie konnte ihr Kind zur Schule schicken.

In den türkischen Medien wurde auch über euer Straßenfest hier in Balat berichtet.

Sinem: Ja, das war ein besonderer Tag! Wir haben das erste Straßenfestival für die Kinder in Balat veranstaltet. Das Ganze wurde allein durch die Solidarität unserer Nachbarschaft getragen, nicht einen einzigen Kuruş haben wir dafür ausgegeben.

Murat: Eine Nachbarin backte uns zum Beispiel dreihundert Muffins, andere brachten Puppen oder Spiele für die Kinder. Ich zog mir Perücke und Clownsnase auf, wir hatten sehr viel Spaß. Und die Kinder natürlich auch (lacht).

Erzählt uns, wie eurer Projekt begonnen hat.

Murat: Angefangen haben wir mit dem Recycling-Projekt Bysatkurtul/Paylaşkurtul (dt: verkaufen und Entsorgen/Teilen und Entsorgen). Wir zogen von Tür zu Tür und fragten die Leute, ob sie alte Gegenstände hätten, die sie loswerden möchten. Unsere Idee war es, eine neue Recycling-Kultur zu schaffen: Du kannst deine alten Sachen entsorgen, indem du sie teilst und damit anderen etwas Gutes tust. Paylaşmak mutluluktur! (dt: Teilen macht glücklich!)

Sinem: Vielen gefiel unsere Idee vom Teilen und Entsorgen und wir bekamen schnell Unterstützung. Auch türkische Medien wie Kanal D, Hürriyet und Akşam berichteten über uns. Sie nennen uns das „Recycling-Pärchen aus Balat“ (lacht). Durch den großen Zuspruch und die vielen Helfer müssen wir jetzt kein Geld mehr für die Sachen verlangen, sondern können sie an diejenigen verschenken, die sie brauchen.

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Wo habt ihr beide euch kennengelernt?

Sinem: Wir haben uns mitten im Plunder kennengelernt (lacht), früh morgens auf einem Flohmarkt in Bomonti, dem Gelände der Bierfabrik. Es war noch dunkel und man konnte nur im Schein der Taschenlampe etwas sehen. Gerade als ich nach einer antiken Halskette greifen wollte, kam eine Hand von hinten und griff auch danach. Ich lies die Kette liegen und ging weiter. Später machte ich eine kleine Pause. Ich trank einen Çay, die Sonne ging gerade auf. Da kam ein Mann auf mich zu. Er streckte mir das Collier entgegen und sagte: „Das Leben ist schöner, wenn man teilt. Wir sollten einen Çay zusammen trinken.“

Soziale Projekte wie das eure gibt es nicht viele in der Türkei. Seid ihr auch auf Ablehnung gestoßen?

Murat: Ja, die großen Firmen mögen uns nicht. Sie wollen ihre neuen Produkte verkaufen. Wir aber nutzen die alten und gebrauchten. Am Anfang haben wir tausende Anrufe erhalten. Sie wollten uns zum Aufhören überreden. „Warum nutzt ihr gebrauchte Sachen und nicht neue?“, fragten sie uns.

Sinem: Die Menschen hier verstehen unseren modernen Gedanken vom Teilen noch nicht. Wir leben im 21. Jahrhundert, aber sie denken hier manchmal noch sehr veraltet. Manchmal glauben wir, sie fürchten sich vor neuen guten Ideen (lacht).

Was steht als nächstes auf eurer Agenda?

Sinem: Wir würden gern mit einem Wohnwagen um die Welt fahren, Dinge, die die Menschen nicht mehr brauchen, einsammeln und sie den Bedürftigen bringen. Um dieses Projekt zu realisieren, suchen wir noch nach Unterstützern, zum Beispiel einem Fond.

Murat: Wir würden auch gerne in ein größeres Haus umziehen. Ihr seht ja, unser kleines Hobbit House platzt bald aus allen Nähten. Auch dafür suchen wir noch Sponsoren, die uns bei unserem Projekt finanziell unterstützen wollen.

Wenn ihr einen Wunsch frei hättet: Was wäre das tollste Geschenk, das euch jemand vor die Tür stellen könnte?

Murat: Einen Westfalia-Wohnwagen. Die sind wirklich super (lacht)!

Credits

Text: Anna Kristina Bückmann

Fotos: Ali Fuat Karasu und Bektash Musa

 

Ein kurzer Bericht auf türkisch über das Hobbit House auf Kanal D

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